«Der wahre Triumph liegt nicht im Vermeiden von Schmerz, sondern im Mut, ihm zu begegnen.» – Adrian Ottiger
Kennst du diese Momente? Du greifst zum Smartphone, ohne zu wissen warum. Scrollst durch endlose Feeds, während sich in deiner Brust eine undefinierbare Spannung aufbaut. Vielleicht spürst du einen Knoten im Hals, ein Ziehen im Magen oder eine diffuse Unruhe, die du nicht einordnen kannst. Und anstatt hinzuhören, was dieser Körper dir sagen will, wählst du die Flucht. Nicht die grosse, dramatische Flucht – nein, die kleine, alltägliche. Die, die so selbstverständlich geworden ist, dass wir sie kaum noch bemerken.
Der Automatismus der Ablenkung
Gestern erwischte ich mich selbst dabei. Mitten in einer wichtigen Arbeit griff ich zum zehnten Mal zum Handy. Nicht weil es vibriert hätte. Nicht weil ich auf eine Nachricht wartete. Sondern weil da diese unterschwellige Unruhe war, dieses kaum merkliche Ziehen in der Magengegend, das ich nicht wahrhaben wollte. Es war einer dieser Momente, in denen die Flucht so automatisch kommt wie das Atmen.
Wir leben in einer Welt der permanenten Ablenkung. Jeder Moment der Stille wird sofort gefüllt: mit Nachrichten, die wir zum zehnten Mal checken, mit To-Do-Listen, die wir schreiben, aber nie abarbeiten, mit belanglosen Gesprächen, die nur dem Zweck dienen, die Stille zu vertreiben. Wir sind Meister der Beschäftigung geworden, Virtuosen der Vermeidung. Doch während wir uns einreden, produktiv zu sein, verpassen wir etwas Wesentliches: uns selbst.
Es ist ein perfides System, das wir uns aufgebaut haben. Ein System der kleinen Fluchten, der sanften Betäubung. Wir nennen es “Multitasking” oder “always on”, aber in Wahrheit ist es oft nichts anderes als eine hochentwickelte Form der Selbstflucht. Wir sind so geschickt darin geworden, dass wir den Moment der Flucht selbst gar nicht mehr wahrnehmen. Er ist zu einem Reflex geworden, einem automatisierten Verhaltensmuster, das einsetzt, bevor wir überhaupt bewusst entscheiden können.
Die Anatomie der Flucht
Doch was genau passiert in diesen Momenten? Es beginnt meist mit einem subtilen Unbehagen. Einer inneren Spannung, die sich ankündigt wie ein fernes Gewitter. Nicht bedrohlich genug, um Alarm zu schlagen, aber unangenehm genug, um uns nach Ablenkung suchen zu lassen. Und genau hier liegt der entscheidende Moment: Anstatt innezuhalten und zu lauschen, was dieses Unbehagen uns sagen will, greifen wir zur nächstbesten Ablenkung.
Das Problem ist nicht die Ablenkung an sich. Das Problem ist, dass wir durch dieses ständige Wegschauen den Kontakt zu uns selbst verlieren. Wir überhören die leisen Signale unseres Körpers, ignorieren die subtilen Botschaften unserer Seele. Wir werden taub für die Weisheit, die in der Stille liegt.
Die verborgene Sehnsucht
Was wir dabei übersehen, ist die tiefe Sehnsucht, die unter all der Geschäftigkeit schlummert. Es ist keine Sehnsucht nach mehr – mehr Erfolg, mehr Anerkennung, mehr Besitz. Es ist eine Sehnsucht nach weniger. Nach Ruhe. Nach einem Moment, in dem wir nichts beweisen müssen. In dem wir einfach sein dürfen, mit allem, was ist.
Diese Sehnsucht manifestiert sich oft als eine Art Leere. Eine Leere, die wir fürchten, weil sie uns mit uns selbst konfrontiert. Sie ist wie ein Spiegel, der uns ungefiltert zeigt, wer wir sind – jenseits aller Rollen und Masken. Und genau davor laufen wir weg. Nicht vor dem Schmerz, nicht vor der Angst, sondern vor der schonungslosen Ehrlichkeit dieser Stille.
Die Kunst des Bleibens
[Eine Einladung zum Innehalten]
Nimm dir einen Moment. Ja, genau jetzt. Spüre deinen Atem. Spüre, wie deine Füsse den Boden berühren. Nimm wahr, was in diesem Moment in dir ist.
…
Doch was würde passieren, wenn wir blieben? Wenn wir den Mut aufbrächten, dieser Stille zu begegnen? Das Bleiben, von dem ich spreche, ist keine passive Resignation. Es ist ein aktiver Akt des Mutes. Es bedeutet, dem ersten Impuls der Flucht zu widerstehen und stattdessen präsent zu bleiben – mit allem, was auftaucht.
Stell dir vor, du sitzt am Ufer eines Sees. Normalerweise würdest du jeden Stein, der ins Wasser fällt, sofort herauszufischen versuchen. Du würdest alles tun, um die Oberfläche glatt und ruhig zu halten. Aber was passiert, wenn du einfach nur zuschaust? Die Wellen breiten sich aus, erschaffen Muster, die du nie geplant hättest – und beruhigen sich von selbst. Nicht weil du etwas tust, sondern gerade weil du nichts tust.
Der Moment der Wahrheit
…
In diesem Nicht-Tun liegt eine tiefe Weisheit.
…
Der Knoten in deiner Brust, das Ziehen in deinem Hals – sie wollen nicht “gelöst” werden. Sie wollen nicht wegerklärt oder optimiert werden. Sie wollen einfach nur da sein dürfen. Gesehen werden. Gehört werden. Gefühlt werden.
Das ist vielleicht die grösste Herausforderung: diesem Moment seine eigene Wahrheit zuzugestehen. Nicht einzugreifen. Nicht zu bewerten. Nicht zu analysieren. Sondern einfach nur Zeuge zu sein. Es ist ein Akt der Selbstliebe, diese inneren Bewegungen nicht als Störung zu betrachten, die beseitigt werden muss, sondern als Teil unserer Lebendigkeit.
Die paradoxe Befreiung
Und hier geschieht etwas Paradoxes: In dem Moment, wo wir aufhören zu kämpfen, beginnt die wahre Heilung. Nicht weil wir den Schmerz besiegt haben, sondern weil wir ihn nicht mehr besiegen müssen. Wir erkennen, dass wir grösser sind als unsere Gefühle. Dass wir sie halten können, ohne von ihnen überwältigt zu werden.
Diese Erkenntnis ist keine intellektuelle. Sie ist eine körperliche Wahrheit, die sich in jedem Atemzug manifestiert. Sie zeigt sich in dem Moment, wo wir spüren: Ich bin nicht meine Gedanken. Ich bin nicht meine Gefühle. Ich bin der Raum, in dem all das stattfinden darf.
Der Weg zurück zu dir
Letzte Woche sass ich auf meinem Sitzkissen, eigentlich bereit für meine morgendliche Meditation. Doch anstatt in die Stille zu gehen, griff ich reflexartig zum Handy. In diesem Moment wurde mir bewusst: Das hier ist er – der Moment der Entscheidung. Ich legte das Handy weg, schloss die Augen und liess mich in die Unbequemlichkeit der Stille fallen. Was folgte, war keine Erleuchtung, kein grosser Durchbruch. Aber ein Moment echter Verbindung mit mir selbst, ein Moment des Ankommens.
Dieser Weg zurück zu uns selbst beginnt mit einem einzigen bewussten Atemzug. Mit der Entscheidung, für einen Moment innezuhalten. Die Augen zu schliessen. In uns hineinzuspüren und sanft zu fragen: “Was brauchst du gerade von mir?”
Die Antwort kommt vielleicht nicht sofort. Vielleicht kommt sie nicht in Worten. Vielleicht ist sie zunächst nur ein vages Gefühl, eine körperliche Empfindung. Aber wenn wir lernen, dieser inneren Stimme zu lauschen, ihr Raum zu geben, beginnt sich etwas zu verändern. Wir finden zurück zu einer Verbindung, die wir nie wirklich verloren haben – die Verbindung zu unserer inneren Weisheit.
Eine Einladung zum Leben
Dies ist keine theoretische Übung. Es ist eine Einladung zum Leben. Eine Einladung, die kleinen Fluchten zu erkennen und ihnen mit Mitgefühl zu begegnen. Eine Einladung, der Stille zu vertrauen und in ihr die Antworten zu finden, die wir so verzweifelt im Aussen suchen.
Vielleicht merkst du gerade, wie dein Körper auf diese Worte reagiert. Vielleicht spürst du einen Widerstand, eine Sehnsucht oder beides zugleich. Was auch immer es ist – lass es da sein. Du musst nichts damit tun. Nichts verändern. Nichts verbessern.
Der wahre Triumph
…
Der wahre Triumph liegt nicht darin, perfekt zu sein. Er liegt nicht darin, nie mehr wegzulaufen oder immer stark zu sein. Er liegt in der Erkenntnis, dass wir sein dürfen, wie wir sind. Mit allen Höhen und Tiefen. Mit allen Widersprüchen und Unvollkommenheiten.
In dieser Akzeptanz liegt eine Kraft, die grösser ist als jede Flucht. Eine Kraft, die uns nicht von aussen gegeben wird, sondern die wir in uns tragen – seit jeher. Sie wartet nur darauf, dass wir innehalten, lauschen und endlich, endlich bleiben.
Also, was hältst du davon, genau jetzt damit zu beginnen? Nimm einen tiefen Atemzug.
…
Spüre deinen Körper.
…
Und erlaube dir, einfach da zu sein. Mit allem, was ist. Denn genau hier, in diesem Moment der bewussten Präsenz, beginnt dein wahres Leben.
Denn am Ende ist es ganz einfach:
…
Du bist schon da.
…
Du warst es die ganze Zeit.
…
Du musst nicht mehr suchen.
Und wenn du jetzt tief in dich hineinspürst…
…
Was zeigt sich in dir?
…
Was auch immer es ist – es ist genau richtig, so wie es ist.
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